Reichenauer Verbrüderungsbuch: Das Who's Who des Mittelalters ist das Buch des Lebens
Sie wurden als „libri vitae“, Bücher des Lebens, bezeichnet und sind herausragende Zeugnisse des Lebens und Gedenkens im frühen Mittelalter. Sieben Exemplare dieser kostbaren Handschriften sind in Europa erhalten und gelten – jedes für sich – als unersetzbare Dokumente. Als Erinnerungszentren ihrer Epoche geben sie einzigartige Einblicke in die damalige Gesellschaft und internationalen Netzwerke der Klöster.
Auch wenn der schottische Verleger Adam Black 1847 das erste offizielle „Who’s Who“ veröffentlichte, gilt das zwischen dem 9. und 13. Jhd. entstandene „Reichenauer Verbrüderungsbuch“ als die erste umfassende Sammlung wichtiger und bedeutender Persönlichkeiten des europäischen Mittelalters. Im Laufe von vier Jahrhunderten verewigten sich auf seinen 164 Pergamentseiten mehr als 38.000 Personen. Auf dem kostbaren Pergament finden sich einzigartige Lebenszeichen von Stiftern, Gebetsbrüderschaften, Mönchen, Nonnen, Wohltätern, Pilgern, Herrschern und Gästen, die aus ganz Europa in das Reichenauer Kloster kamen.
Im Mittelalter führten viele Klöster Gedenkbücher. Wer darin mit seinem Namen verewigt wurde, oder sich selbst verewigte, der konnte erfolgreicher auf den Einzug ins Himmelreich hoffen.
Neben den berühmten karolingischen und ottonischen Herrschern finden sich hier auch König Aethelstan von England, Papst Urban II., der Bischof von Canterbury und der benediktinische Dichter, Botaniker und Diplomat, Walahfrid Strabo.
In mehr als vier Jahrhunderten gedachten die Reichenauer Mönche in ihren Gebeten an die in ihrem „libri vitae“ enthaltenen Personen. Da die Handschrift eine wichtige memoriale Funktion besaß, bestand das Interesse der Klostergäste darin, in diesem „Liber memorialis Augiensis“ verewigt zu sein. Dabei mussten bei den Gebeten keinesfalls alle enthaltenen Personennamen vorgelesen werden. Es reichte aus, das Verbrüderungsbuch auf dem Altar zu legen und im Gebet auf die Namenslisten hinzuweisen.
Das Benediktinerkloster auf der Insel Reichenau war eines der einflussreichsten Klöster Europas und durch seine Gebetsbrüderschaften zu allen wichtigen Klöstern in Frankreich, Österreich, Schweiz, Italien und Belgien verbunden. Daher gilt das Reichenauer Verbrüderungsbuch als eines der bedeutenden kulturgeschichtlichen Werke seiner Epoche. Als umfangreichste Handschrift des mittelalterlichen Memorialwesens ermöglicht es einen exklusiven Einblick in die Beziehungen der Klöster und die damalige Gesellschaft.
Kerninformationen
Das Archäologische Landesmuseum in Konstanz und die Insel Reichenau sind vom 20. April bis 20. Oktober 2024 die Schauplätze der Großen Landesausstellung „Klosterinsel Reichenau – Welterbe des Mittelalters“, die vom Badischen Landesmuseum ausgerichtet wird. Die Hauptwerke der Reichenauer Handschriften wurden 2003 als „kulturgeschichtlich einzigartige Dokumente, die exemplarisch das kollektive Gedächtnis der Menschheit repräsentieren“ zum UNESCO-Weltdokumentenerbe ernannt.
Anlässlich des Jubiläums „1300 Jahre Klosterinsel Reichenau“ führt das Badische Landesmuseum diese einmaligen und kostbaren Kunstwerke erstmals seit Jahrzehnten in diesem Umfang wieder am Bodensee zusammen. In einer der spektakulärsten Sonderausstellungen Europas entsteht am Benediktinerplatz in Konstanz eine beispiellose Schatzkammer der Kultur- und Zeitgeschichte.
Weitere Informationen unter: https://www.landesmuseum.de/reichenau